– Haymarket Was a Riot –
Im Oktober 1884 riefen Gewerkschaften in den USA und Kanada zu einem landesweiten Streik für den 1. Mai 1886 auf. Dabei ging es den nordamerikanischen Arbeiter:innen um eine Arbeitszeitbegrenzung durch Einführung des Achtstundentages und die Erkämpfung von mehr freier Lebenszeit. Allein in den USA traten am vereinbarten Tag fast eine halbe Million Proletarier:innen aus 11.000 Betrieben in den Streik, konnten aber nur für einen kleinen Teil der Beteiligten (etwa 20.000) das Streikziel erreichen. In diesem Kampf bezogen sie sich direkt auf die Massendemonstrationen für den Achtstundentag, die am 1. Mai 1856 in Australien stattgefunden hatten.
Der damals größte Einzelstreik in Nordamerika mit rund 90.000 Lohnabhängigen fand am 1. Mai
1886 in Chicago statt. In dieser Industriestadt trug ein militantes und migrantisch geprägtes Proletariat den Kampf um den Achtstundentag. Insbesondere anarchistische Arbeiter:innen und europäische Zuwanderer:innen standen an vorderster Front und genau gegen diese Teile der
nordamerikanischen Arbeiterklasse hetzten die Bosse und die bürgerliche Presse besonders heftig. So rief z. B. die Chicago Mail bereits im Vorfeld des 1. Mai 1886 dazu auf, ein Exempel an den in
ihren Augen zentralen Personen des Protestes, August Spies und Albert Parsons zu statuieren. Der aus Deutschland zugewanderte Möbelarbeiter August Spies sowie der in Alabama geborene Schriftsetzer – beides revolutionäre Sozialisten, die sich im Laufe der Zeit dem Anarchismus zuwandten – schrieben für anarchistische Zeitungen in Chicago und waren bekannte Sprecher des sozialrevolutionären Flügels der US-amerikanischen Arbeiterbewegung.
Am Abend des Streiktages fand eine Versammlung von Arbeiter:innen auf dem Haymarket, einem zentralen Platz in Chicago, statt. Neben dem Kampf für den Achtstundentag ging es auf der Versammlung auch um die Massenaussperrungen der Bosse sowie gegen deren Praxis, ausgesperrte und streikende Arbeiter:innen durch neu zugewanderte Arbeitskräfte zu ersetzen, die oft genug aus purer Not vor den Fabriktoren Schlange standen. In Chicago gingen die Streiks noch mehrere Tage weiter, wobei sich die Streikenden täglich auf öffentlichen Plätzen versammelten, um für ihre Anliegen zu demonstrieren. Am 3. Mai 1886 ging die Polizei gegen die Manifestationen mit Schusswaffen vor und feuerte in die Menschenansammlung. Sie tötete sechs Arbeiter und verletzte mehrere Personen. Doch die Streikenden setzten am selben und am nächsten Tag die Umzüge durch die Straßen der Industriemetropole fort, die meist am Haymarket Square endeten. Genau auf diesem
Platz eskalierte die Lage am nächsten Tag, dem 4. Mai, als eine Bombe in der Protestmenge explodierte. Zwölf Menschen, darunter ein Ordnungshüter, starben noch am Ort des Geschehens. Sechs weitere Polizisten erlagen später ihren Verletzungen. Die Polizei eröffnete daraufhin das Feuer und tötete und verletzte eine unbekannte Zahl von Protestierenden (Schätzungen sprechen von mindestens 20). Bis heute ist unklar, wer die Bombe geworfen hat.
Acht Männer, die die Streiks mitorganisiert hatten, wurden festgenommen, angeklagt und schuldig gesprochen. Neben August Spies und Albert Parsons wurden noch George Engel und Adolph Fischer – beides aus Deutschland zugewanderte anarchistische Arbeiter – verurteilt und gehängt. Der in Mannheim geborene Holzarbeiter und Anarchist Louis Lingg beging in der Zelle Selbstmord. Drei weitere anarchistische Arbeiter wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und erst sechs Jahre später begnadigt. In den USA gelten die Verurteilungen und Hinrichtungen heute als
Justizirrtümer.
„The day will come when our silence will be more powerful than the voices you strangle today.“
– August Spies

Der Kampf um Arbeitszeitreduzierungen (bei einem damals üblichen Arbeitstag von 10 bis 12 Stunden) ging gegen alle Repression des Staates und des Kapitals weiter. Im Dezember 1888 erklärten die in St. Louis versammelten Gewerkschaftsdelegierten – unter ihnen zahlreiche deutschstämmige Migrant:innen – am 1. Mai 1890 erneut großangelegte Streiks und Kundgebungen durchzuführen. Dabei war die Bewegung nicht auf Nordamerika begrenzt, denn im selben Jahr forderten zum Beispiel auch die französischen Gewerkschaften die Einführung des Achtstundentages.
Auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale 1889 wurde zum Gedenken an die Opfer des Haymarket Riot der 1. Mai als »Kampftag der Arbeiterbewegung« ausgerufen. Daraufhin beging das Proletariat am 1. Mai 1890 zum ersten Mal diesen »Protest- und Gedenktag« mit Massenstreiks und Massendemonstrationen auf der ganzen Welt. In Deutschland beteiligten sich trotz angedrohter Sanktionen am 1. Mai 1890 etwa 100.000 Arbeiter:innen an Streik Demonstrationen und sogenannten »Maispaziergängen«. Die regionalen Schwerpunkte bildeten Berlin und Dresden, aber auch Hamburg, wo es zu einem besonders erbitterten Arbeitskampf mit zeitweise 20.000 Streikenden kam.
Für viele proletarische Militante rund um den Globus bedeutete – damals wie heute – der 1. Mai einen internationalen Kampftag der Arbeiterklasse. Nicht so bei der deutschen Sozialdemokratie. Auf dem Parteitag im Oktober 1890 in Halle beschloss sie, den 1. Mai als dauerhaften »Feiertag der Arbeiter« einzuführen. Um jeder möglichen Konfrontation die Spitze zu nehmen, wollte die SPD dort von einer Arbeitsniederlegung absehen, wo sich ihr Hindernisse in den Weg stellten. Die Partei und die sozialdemokratischen Gewerkschaften machten den Aufruf zum Streik von der wirtschaftlichen Lage des jeweiligen Betriebs abhängig. Wo ein Ausstand den Unternehmern weh tun würde, sollten am ersten Sonntag im Mai lediglich Umzüge und Feste im Freien stattfinden. Im Gegensatz zu klassenkämpferischen Arbeiter:innen und revolutionären Aktivist:innen beging die Sozialdemokratie den 1. Mai also von Anfang an nicht als einen Kampftag, sondern eher als einen Festtag.
In der Weimarer Republik waren ab 1924 Demonstrationen unter freiem Himmel am 1. Mai verboten. Dies wollten sich die kämpferischen Teile des Proletariats nicht bieten lassen, so dass es an diesem Tag regelmäßig zu Auseinandersetzungen in den Betrieben und auf den Straßen kam. Die folgenreichsten dieser Unruhen ereigneten sich 1929 in Berlin. Obwohl der sozialdemokratische
Polizeipräsident von Berlin bereits ein halbes Jahr zuvor jegliche politische Versammlung unter freiem Himmel verboten hatte, rief die KPD für den 1. Mai 1929 trotzdem zu Maikundgebungen
auf. Parteiaktivist:innen verteilten am Vortrag Flugblätter, in denen wider besseres Wissens behauptet wurde, dass das Demonstrationsverbot aufgehoben worden sei. Bei den militanten, zum Teil bewaffnet geführten Auseinandersetzungen, die sich vom 1. bis 3. Mai in der Hauptstadt hinzogen, ging die Berliner Polizei mit brutaler Härte und Waffengewalt vor. In den proletarischen Vierteln Wedding und Neukölln setzte die Staatsmacht sogar Maschinengewehre und gepanzerte Fahrzeuge ein. Die tagelangen Maiunruhen hinterließen mehr als 30 von der Polizei getötete Zivilist:innen und rund 200 Verletzte. Die Ereignisse des sogenannten »Blutmai« vertieften die Spaltung zwischen den linken Parteien SPD und KPD weiter, was sich wenige Jahre später bitter rächen sollte.
Nachdem sowohl die sozialdemokratischen als auch die parteikommunistischen Kräfte den Nationalsozialismus völlig falsch eingeschätzt hatten und eine militante Gegenwehr gegen die Machtübertragung der bürgerlichen Eliten an die Nazis ausblieb, zertrümmerte die NS-Regierung systematisch die Arbeiterbewegung und deren Organisationen. Dennoch leisteten vor allem sozialistische, kommunistische und anarchistische Aktivist:innen, viele von ihnen Arbeiter:innen, weiterhin Widerstand gegen die Nazis. Im April 1933 erklärte die NS-Regierung den 1. Mai zum »Feiertag der nationalen Arbeit«, um etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen. Dies konnte jedoch
nicht verhindern, dass nicht wenige Arbeiter:innen in den ersten Jahren des Nationalsozialismus den 1. Mai auf ihre Weise feierten. Sie blieben den offiziellen nationalsozialistischen Maifeiern fern und trafen sich lieber in den Kneipen der Arbeitervierteln. Beliebt – besonders in den Industrierevieren – waren an diesem Tag auch das Anbringen von antifaschistischen Wandparolen und das Hissen von roten Fahnen an Fabrikmauern und Fabrikschornsteinen.
Als spätestens 1937/38 die vielen Widerstandszellen der Arbeiterbewegung nach und nach von der Gestapo aufgerollt worden waren, traten sogenannte wilde Jugendcliquen auf den Plan. Die unangepassten und antifaschistischen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen erhielten insbesondere im Zweiten Weltkrieg regen Zulauf und entwickelten sich in diversen deutschen Großstädten zu einem Massenphänomen. Verschiedene dieser Jugendcliquen zeigten auch am 1. Mai ihre Ablehnung des NS-Regimes, indem sie vor Parteibüros oder Polizeireviere zogen und dort laut und provokativ Lieder wie beispielsweise »Die Internationale« grölten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus blieb der 1. Mai sowohl in West- wie in Ostdeutschland gesetzlicher Feiertag. In der DDR kam es an jedem 1. Mai zu staatlich organisierten Massenaufmärschen, um den Realsozialismus angemessen zu huldigen. In Westdeutschland feierten die sozialdemokratischen DGB-Gewerkschaften in den 1950er- uns 60er-Jahren den Tag mit schnöden Latschdemonstrationen. Erst die Sozialrevolte von 1967/68 und die Entstehung der sogenannten Neuen Linken führten dazu, dass sich das gewerkschaftliche Ritual wieder änderte. Nach und nach etablierte sich die Praxis, dass am 1. Mai in den größeren Städten mindesten zwei Umzüge stattfinden. Die Bezeichnungen für die unabhängig vom DGB und der SPD organisierten Demonstrationen lauteten meist entweder »internationalistische« oder »revolutionäre« 1.Mai-Demonstration. Die linksradikale und autonome Bewegung in Westdeutschland und Westberlin feierte den internationalen Kampftag – insbesondere in den 1980er-Jahren – auf ihre ganz eigene Art und Weise: Sie versuchte an den historischen Ursprung des Tages anzuknüpfen und das Motto »Haymarket was a riot!« umzusetzen.